Universität Bremen: Einführung in die Wissenschaftsphilosophie und - geschichte für Psychologen, 2. Teil

Kompaktseminar 16.-20.7.2011
Zus. mit Dr. med. Zwi Guggenheim

„Einführung in die Wissenschaftsphilosophie und –geschichte für Psychologen 2“: Formen des kausalen Denkens (Bremen SS 2011)

Wir hatte im letzten Semester gesehen, wie das „Erfinden von Leuten“ (Ian Hacking) mit Vorstellungen zur Verbesserung der Situation dieser „human kinds“ einhergeht – z.B. in Programmen zur Prävention von Teenager-Schwangerschaften. Mit diesem Präventionsgedanken sind bestimmte (oft implizit bleibende) Vorstellungen von psycho-sozialer Beeinflussung und von psychischer Determination und Kausalität verbunden. Was sind das für Vorstellungen. Vor allem dieser Frage wollen wir im zweiten Teil unseres Seminars nachgehen. Wie schon beim letzten Mal ist es hoch erwünscht, dass TeilnehmerInnen allein oder in kleinen Gruppen einzelne der Texte in Kurzreferaten vorstellen. (Bitte unter ps[at]peterschneider.info mitteilen, welchen Text man referieren möchte. Vielen Dank im Voraus.)

Zum Ablauf des Seminars:

Freud verstand sich selbst als ein deterministischer Theoretiker des Psychischen. Die Frage ist nur: Was heisst das eigentlich? Wird hier mit der Determiniertheit psychischer Phänomene auf eine newtonsche Kausalität verwiesen (eine Billardkugel stösst die andere an) oder auf etwas anderes? (Siehe dazu die Texte von Freud, die Artikel im Vokabular der Psychoanalyse, Aufsatz von Hospers und einen Exkurs zum Thema strafrechtlicher Verantwortung von Roth sowie Daston/Vidalskurzem Abriss zur „Natur“ als Argumentationsfigur.)

Bei Humeerscheinen Kausalität und Determinismus als epistemologische Voraussetzungen und nicht als ontologische „reale“ Verhältnisse. Durch die Abkehr vom Newtonschen Modell der Kausalität zugunsten determinierender Wahrscheinlichkeiten (siehe Hacking) verändert sich das Bild (siehe Wundt) noch einmal. Psychologie argumentiert statistisch.

Ausdruck dieser statistischen Argumentation zeigt sich – auch innerhalb der Psychoanalyse - in Präventionsforschungen, welche ihren Nachhall in politischen Interventionen finden (s. Antrag der Abgeordneten). In der politischen Debatte bezieht man sich dabei in der Regel auf die „Objektivität“ neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, wobei die in Anspruch genommene Objektivität der Wissenschaft in der Regel als überhistorisches Erkenntnisideal vorausgesetzt wird. (Siehe zur Geschichtlichkeit der Objektivität die beiden Aufsätze von Daston.)

Zur Vorstellung von Objektivität gehören auch bestimmte Konzepte über das Verhältnis von Wirklichkeit und deren sprachlicher (und bildlicher) Repräsentation. Was Leibniz im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts mit der Mathematisierung elementarer Kategorien in Aussicht stellt, verspricht gegenwärtig das „Human Brain Project“ als Computersimulation des Gehirns einzulösen (siehe Huerta et al., Shepherdet al. und Fisch).

Literaturliste

JSigmund Freud (1895): “Entwurf einer Psychologie”. In GW, Nachtragsband, S. 444 - 448

Sigmund Freud (1901): Zur Psychopathologie des Alltagsleben.s. GW IV, S. 265 - 310

Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XI, S. 97-110

J. Lapanche u. J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bände. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, Stichwörter: “Nachträglichkeit”, “Überdeterminierung”, “Überdeutung, Überinterpretation”

John Hospers: “What Means This Freedom”. In: Sidney Hook (Hg.): Determination and Freedom in the Age of Modern Science. New York 1958, 126 – 142; dt. in: Ulrich Pothast: Seminar_ Freies Handeln und Determinismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 64 - 82

Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln: Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Neue, vollständig überarbeitete Ausgabe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 536 - 544

Lorraine Daston/ Fernando Vidal: “Introduction: Doing What Comes Naturally”. In: L.D./F.V.: The Moral Authority of Nature. Chicago: Univ. of Chicago Press 2004, S. 1-20

David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Durchgesehene und verbesserte Auflage, Stuttgart: Reclam 1988, S. 106-134 Link

Ian Hacking: The Taming of the Chance. Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 1-10

Wilhelm Wundt: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmng. Leipzig und Heidelberg: Winter’sche Verlagshandlung 1862, S. XI - XXXII PDF-Dokument

Antrag der Abgeordneten Andreas Dressel, Gesine Dräger, Sabine Boeddinghaus, Gerhard Lein, Aydan Özoguz, Martin Schäfer, Rolf-Dieter Klooß und Fraktion PDF-Dokument

Lorraine Daston: “Objektivität und die Flucht aus der Perspektive”. in: L.D: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Ffm.: Fischer, 2001, S. 127-155

Lorraine Daston: “Die moralischen Ökonomien der Wissenschaft”, in: L.D: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Ffm.: Fischer, 2001, S. 157-184

Gottfried Wilhelm Leibniz: Anfangsgründe einer allgemeinen Charakteristik. Werke IV, Darmstadt: Wiss.Buchges. 1992, S. 39 - 57

Michael F. Huerta, Stephen H. Koslow and Alan I. Leshner: “The Human Brain Project: an international resource”. In: Trends in Neurosciences Volume 16, Issue 11, November 1993, S. 436-438 Link

Gordon M. Shepherd, Jason S. Mirsky, Matthew D. Healy, Michael S. Singer, Emmanouil Skoufos, Michael S. Hines, Prakash M. Nadkarni and Perry L. Miller: “The Human Brain Project: “Neuroinformatics tools for integrating, searching and modeling multidisciplinary neuroscience data”. In: Trends in Neurosciences, Vol. 21, No. 11, 1998, S. 460 - 468 PDF-Dokument

Florian Fisch: Der Griff nach dem Bewusstsein“. In: NZZ, 11.5.2011 Link

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